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Autor Mitteilung
Dirk1975
Moderator

Beiträge: 435


 

Gesendet: 03:10 - 03.06.2004

Verschobener Beitrag von Philipp:




Ich habe einen ganz herausragenden Artikel entdeckt, den ich Euch nicht vorenthalten möchte. Besser kann man es kaum formulieren, vor allem ich könnte es nicht so ohne Zorn und Eifer schreiben.

Denkmalpflege heißt Geschichte erlebbar machen
von Matthias Donath

Die staatliche Denkmalpflege ist in eine Krise geraten. Auch wenn die öffentliche Debatte, ausgelöst im April 2000 durch ein Gutachten für die Bundestagsfraktion Bündnis 90 / Die Grünen, nach kurzer Zeit wieder erstarb, blieben viele Fragen unbeantwortet(1). Der Besucheransturm zum Tag des offenen Denkmals überdeckt, daß die Kommunikation zwischen Denkmalbehörden und Öffentlichkeit nachhaltig gestört ist. Bei Bauherren, bei Bewohnern und Nutzern denkmalgeschützter Bauten ist die Akzeptanz für Auflagen und Forderungen der Denkmalbehörden merklich geschwunden. Oft können nur noch Steuerabschreibungen und - immer weiter zurückgehende - Zuschüsse und Fördermittel überzeugend wirken. Damit verbunden wird die denkmalpflegerische Arbeit fast ausschließlich zum Gesetzesvollzug. Die Begeisterung über die Schätze des kulturellen Erbes geht verloren.

(1) vgl. Dokumentation: Entstaatlichung der Denkmalpflege? Von der Provokation zur Diskussion. Eine Debatte über die Zukunft der Denkmalpflege. Hrsg. von der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger. Berlin 2000, dort Gutachten von Dieter Hoffmann-Axthelm für Bündnis 90 / Die Grünen und weitere Diskussionsbeiträge und Reaktionen

Fragt man nach den Ursachen dieser verhängnisvollen Entwicklung, dann wurde in letzter Zeit immer wieder die sogenannte Erweiterung des Denkmalbegriffes ins Feld geführt, die zu einer Überlastung der Denkmalbehörden geführt habe. Sicher ist die Anzahl der Denkmale in den letzten zwanzig Jahren gestiegen, sicher sind die Anforderungen an Betreuung und Verwaltung gewachsen. Doch ging nicht diese Ausdehnung staatlichen Schutzes auf die Proteste einer breiten Öffentlichkeit zurück? Bürgervereine und Initiativen haben - im Osten und Westen Deutschlands - zur Bewahrung von Dorfanlagen, von Straßenzügen, Schulen, Rathäusern und Industriebauten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beigetragen. Verfall und Verwahrlosung der historischen Städte in der DDR bildeten eine Ursache für den Zusammenbruch des sozialistischen Teilstaats. Die Gründe der öffentlichen Abwendung sind wohl weniger in der Zahl denkmalgeschützter Bauten zu suchen. Es scheint sich vielmehr um ein Phänomen zu handeln, das viel grundsätzlicher auf dem Zusammenhang von Denkmalpflege und Gesellschaft beruht.

Bereits Georg Dehio erkannte, daß das Volk, die Allgemeinheit, der Garant jeder Denkmalerhaltung ist: “Einen ganz wirksamen Schutz wird nur das Volk selbst ausüben, und nur wenn es selbst es tut, wird aus den Denkmälern lebendige Kraft in die Gegenwart überströmen” (2). Er machte deutlich, daß Denkmalpflege keine Geheimwissenschaft darstellt, sondern als allgemeinverständliche Methode der Öffentlichkeit verpflichtet sein muß. Betrachtet man die letzten Jahrzehnte, dann läßt sich eine zunehmende Entfremdung zwischen öffentlicher Meinung und Denkmalpflegetheorie konstatieren, eine Entfremdung, die auf einem immer dichter werdenden Regelwerk der Denkmalpflege beruht. Aus den Schriften von Georg Dehio, Alois Riegl und Max Dvorak wurde - oft unter Mißachtung der historischen Umstände einzelner Aussagen - eine scheinbar wissenschaftliche Theorie der Denkmalpflege gebastelt, ein Grundgerüst, das durch pausenlose Wiederholung zur verbindlichen Leitlinie erhoben wurde (3). Zu den geheiligten Grundsätzen gehört das Verbot jeder Rekonstruktion (4). Verpönt ist die schöpferische Denkmalpflege, der Weiterbau an überlieferten Gebäuden in historischen Architekturformen. Zum Goldenen Kalb dieser Theorie wurde der Begriff der Substanz. Denkmalpflege habe allein die Aufgabe, die Substanz historischer Bauten für kommende Generationen zu überliefern, "vorzuhalten", als sei ein Denkmal ein beliebiger technischer Gegenstand. Diese Ansichten gelten als einzig objektive Basis der Denkmalpflege, so daß Diskussionen und Debatten über andere Wege für überflüssig gehalten werden. Meinungen, die nicht diesen Grundsätzen entsprechen, werden in der Fachwelt ignoriert, als lästig empfunden, als unwissenschaftlich oder gar als reaktionär verurteilt.

(2) Dehio, Georg: Denkmalschutz und Denkmalpflege im neunzehnten Jahrhundert. Festrede an der Kaiser-Wilhelm-Universität zu Straßburg, den 27. Januar 1905. Straßburg 1905. Zitiert nach Georg Dehio. Alois Riegl. Konservieren, nicht restaurieren. Streitschriften zur Denkmalpflege um 1900. Braunschweig-Wiesbaden 1988, S. 96
(3) siehe dazu beispielsweise Mörsch, Georg: ... und heute? Georg Dehio und Alois Riegl, 1987 gelesen. in: Georg Dehio. Alois Riegl. Konservieren, nicht restaurieren. Streitschriften zur Denkmalpflege um 1900. Braunschweig-Wiesbaden 1988, S. 34-42
(4) siehe Sack, Manfred: Das schreckliche Vergnügen am Lügen. in: Streitfall Rekonstruktion. Sonderheft kunst und kirche 3/1997, S. 132-134

Die festgefügten Gebote der Denkmaltheorie haben eines vergessen: den emotionalen Wert der Denkmale (5). Von einem historischen Bauwerk gehen Anregungen und Gefühlswerte aus, die sich nicht allein wissenschaftlich erfassen lassen. Die Besucher empfinden den sinnlichen Reiz der gealterten Gebäude, sie erleben die Schicksale, die sich an ein Denkmal knüpfen. Historische Gebäude rufen Geschichte in vielfältigen Facetten in Erinnerung. Denkmale stiften Identität, sei es für eine gesellschaftliche Gruppe, Stadt oder Region, sie erinnern an Lebensformen, im Dorf oder in der Industrie, die schrittweise aus dem Alltag entschwinden, sie erfüllen nicht zuletzt das Bedürfnis der Menschen nach Romantik. In diesem Sinne tragen auch Schönheit, malerischer Eindruck oder monumentale Wirkung, also individuell empfundene Gefühlswerte, zum öffentlichen Denkmalverständnis bei. Das Kulturbewußtsein einer breiten Öffentlichkeit basiert auf diesen emotionalen Werten. Denkmale, die Geschichte und Geschichten erzählen, an denen Eindrücke und Gefühle erfahrbar werden, besitzen eine große Akzeptanz. Dies zeigt der in den letzten Jahren sprunghaft gewachsene Kulturtourismus. Letztlich ist auch der Tag des offenen Denkmals diesen emotionalen Denkmalwerten verpflichtet.

(5) Frodl, Walter: Denkmalbegriffe und Denkmalwerte. in: Kunst des Mittelalters in Sachsen. Festschrift Wolf Schubert. Weimar 1967, S. 1-10, hier S. 6

Die öffentliche Denkmalerfahrung ist ganzheitlich geprägt. Denkmale, Bauwerke überhaupt, werden im Zusammenhang wahrgenommen, mit Straßen und Plätzen, mit Feldern, Pflanzen und Bäumen. Ein einzelnes historisches Gebäude, erdrückt von modernen Geschäftsstraßen und Wohnblöcken, oder einsam gelegen in riesigen Stadtbrachen, mit schweren Beschädigungen und Zerstörungen überliefert in der öffentlichen Wahrnehmung nur noch einen begrenzten Teil der Geschichte. Die Wunden und Verfremdungen werden nicht als denkmalwerte Zeitschicht empfunden. Schmerz und sehnsuchtsvolle Erinnerung überlagern alle historischen Aussagen. Wunden bestimmen bis heute die gesellschaftliche Erfahrung, zumindest in den Städten, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, die in den 1950er und 1960er Jahren durch moderne Architektur und Stadtplanung eine zweite Zerstörungswelle erleben mußten. Angesichts der massenhaften Auslöschung historischer Zeugnisse brauchen die Menschen Orte oder Bilder, an denen geschichtliche Tiefe erfahrbar ist. Die imaginären Denkmale, die ausgelöschten Zeugnisse, die im öffentlichen Bewußtsein weiter lebendig sind, bieten keinen greifbaren Ersatz. Die Erinnerung muß sich an realen Dingen festmachen.

Die Denkmaltheorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat diese öffentlichen Bedürfnisse und Erwartungen an Denkmale und Denkmalpflege weitgehend ignoriert. Die weitverbreitete Position, denkmalwerte Substanz müsse für die Zukunft gesichert werden, hat den Blick auf die Gegenwart verstellt. Vergessen wurde, daß Denkmale keine autonomen Zeugnisse sind, die unberührt durch die Zeiten gereicht werden können. Der Denkmalwert formt sich erst in der Auseinandersetzung mit der Gegenwart.

Verhängnisvoll sind die Auswirkungen der dogmatischen Denkmaltheorie auf die denkmalpflegerische Praxis. Den Wünschen einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit nach Wiederherstellung oder Ergänzung historischer Zeugnisse schlägt eine breite Ablehnung von Denkmalpflegern entgegen (6). Rekonstruktion gilt als Geschichtsfälschung. Nur wenige Denkmalpfleger setzten sich über die grundsätzlichen Bedenken der meinungsbildenden Dogmatiker hinweg. Vereinzelt wurde durchaus von den geheiligten Grundsätzen Abstand genommen, ohne aber die theoretischen Grundlagen in Frage zu stellen. Erst die Diskussion um den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche hat den Konsens in der denkmalpflegerischen Praxis - zumindest teilweise - aufgebrochen, ohne daß aber ein grundlegender Wandel erkennbar wäre (7). Die Frage der Rekonstruktion läßt sich keinesfalls als Sonderfall abtun. In den neuen Bundesländern sind die tiefgreifenden Spuren des Zweiten Weltkriegs bis heute sichtbar. Die gewaltigen Brachen zerstörter und beräumter Stadtzentren in Magdeburg, Dresden, Berlin, Potsdam oder Halberstadt verlangen bis heute Antworten von Stadtplanung und Denkmalpflege. Die Bürgervereine in diesen Städten erleben mit Unverständnis die Positionen der dogmatischen Denkmaltheorie. Gerade die Vereine, die in der Bürgergesellschaft den Gedanken des Denkmalschutzes aktivieren, gehen als Partner der Denkmalbehörden verloren.

(6) siehe Wiederaufbauplanungen für das Salzhaus am Römer in Frankfurt/Main, für das Stadthaus in Mannheim, für das Schloß Hannover-Herrenhausen, für den Mittelbau des Schlosses in Saarbrücken, vgl. Rekonstruktion in der Denkmalpflege. Überlegungen - Definitionen - Erfahrungsberichte. Hrsg. v. Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz. Bonn 1997, S. 117-144

(7) siehe Wiederaufbauplanungen für das Salzhaus am Römer in Frankfurt/Main, für das Stadthaus in Mannheim, für das Schloß Hannover-Herrenhausen, für den Mittelbau des Schlosses in Saarbrücken, vgl. Rekonstruktion in der Denkmalpflege. Überlegungen - Definitionen - Erfahrungsberichte. Hrsg. v. Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz. Bonn 1997, S. 117-144

Mit Unverständnis reagiert die Öffentlichkeit auf viele denkmalpflegerische Maßnahmen an überlieferten historischen Bauwerken. Die Verengung des Denkmalbegriffs allein auf die Substanz hat zu einer weitreichenden Einschränkung denkmalpflegerischer Möglichkeiten geführt. Lähmend wirkt die Angst vor jedem gestaltenden Eingriff in die überlieferten Zeugnisse. Das Ergebnis dieser puristischen Auffassung sind Formen der Konservierung, die sich unter den Begriffen "fragmentarische Denkmalpflege" oder "archäologische Denkmalpflege" fassen lassen. Kennzeichnend für dieses Vorgehen, das in den letzten Jahren weit um sich gegriffen hat, ist eine reine Bestandssicherung des überkommenden Zustands. Das Bauwerk wird mit allen Überformungen und Zerstörungen bewahrt, auch wenn diese jüngeren Zeitschichten die historische Aussage des Denkmals beeinträchtigen. Jede Bewertung der historischen Schichten wird vermieden. Die künstlerisch herausragende Schicht, verdeckt von den Deformationen späterer Jahre oder Jahrhunderte, bleibt verborgen. Eine Freilegung oder gar Wiederherstellung von Fassadengestaltungen oder Raumfassungen ist ausgeschlossen. Allenfalls Befundfenster werden zugelassen, gedacht als Fenster in die Vergangenheit. Für den unbefangenen Betrachter sorgen diese Befunde, die zusammenhanglos präsentierten Fragmente allerdings eher für Irritation und Verwirrung. Auf diese Weise konservierte Gebäude bewahren zwar die überlieferte Substanz, aber die vielseitige Geschichte und vor allem die künstlerischen Werte werden für den Betrachter nicht erlebbar. Emotionale Denkmalerfahrungen können an diesen überformten Gebäuden nur noch begrenzt vermittelt werden.

Auch die Ergänzungen und Erweiterungen historischer Bauten rufen in der Öffentlichkeit vielfach Zweifel und Staunen hervor. Dabei wird nicht der Sinn der technisch und funktional unabdingbaren Ergänzungen in Frage gestellt, sondern die Gestaltung. Nach den geheiligten Grundsätzen dogmatischer Denkmalpflege muß sich eine neuzeitliche Zutat mit zeitgenössischen Formen vom überlieferten Bestand abheben. Dieses Prinzip führt dazu, daß die moderne Architektur vielfach konfrontativ gegen das historische Bauwerk gesetzt wird. Die bewußte Kennzeichnung der modernen Zutat schlägt um in eine Überlagerung, ja Beeinträchtigung des Denkmals. Die neuzeitliche Architektur nimmt sich oftmals so wichtig, daß die Aura des alten Gebäudes empfindlich gestört wird. Es fehlt jeder Respekt vor der Ausstrahlung historischer Bauten. Auch hier ist zu konstatieren: Dieser einseitige Weg der Denkmalpflege vermindert das Erlebnis historischer Architektur und geschichtlicher Zusammenhänge. Die gesellschaftliche Akzeptanz dieser gegen das Denkmal gerichteten Architektur ist denkbar gering.

Die Leitsätze der dogmatischen, scheinbar wissenschaftlichen Denkmaltheorie haben sich als Irrweg erwiesen, weil sie zur Entfremdung zwischen konservatorischer Arbeit und der Gesellschaft als dem eigentlichen Auftraggeber des Denkmalschutzes geführt haben. Die Kluft zwischen gesellschaftlicher Erwartung und real existierender Denkmalpflege wird immer breiter werden, setzt hier nicht ein Kurswechsel ein. Die Denkmalbehörden kommen nicht umhin, im Sinne Dehios nach dem eigentlichen Garanten der Denkmalerhaltung zu fragen, nach der Allgemeinheit und ihren Erfordernissen und Erwartungen. Denkmalpflege muß sich auf die Bürgergesellschaft gründen, oder sie wird im Wettbewerb der modernen Welt ihre Berechtigung verlieren.

Was bedeutet Denkmalerhaltung im Auftrag der Bürgergesellschaft? Bei der Bewahrung von Zeugnissen der Geschichte dürfen emotionale Denkmalwerte nicht ausgeblendet werden. Die Spuren der Geschichte müssen so bestimmend bleiben, daß ein ganzheitliches Erlebnis von Geschichte und geschichtlicher Erinnerung möglich ist. Die Vermittlung von Geschichte bildet einen wesentlichen Teil des konservatorischen Auftrags. Die Vergangenheit muß sich als emotional wahrnehmbarer, erlebbarer Faktor in historischen Bauten, Dorfbildern und städtischen Strukturen spiegeln.

Schon immer gab es konservatorische Konzepte, die dem Prinzip der Geschichtsvermittlung verpflichtet waren. Dazu zählte nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem der Wiederaufbau der zerstörten Innenstädte in Münster, Freudenstadt oder Freiburg im Breisgau, basierend auf städtebaulichen und architektonischen Planungen in Respekt vor der Vergangenheit. Die städtebauliche Denkmalpflege, die sich der Bewahrung von zusammenhängenden Denkmalstrukturen widmet, der Erhaltung von Städten, Dörfern und Kulturlandschaften, trägt maßgebend zur Aktivierung der Geschichte in der alltäglichen Welt bei. Diese Bemühungen treffen auf eine breite gesellschaftliche Resonanz. Denkmalpflege ist hier zugleich Wirtschaftsfaktor: Die Bewahrung und Erschließung der Städte und Kulturlandschaften, verbunden mit einer Erläuterung geschichtlicher Zusammenhänge über das einzelne Haus hinaus, macht die historischen Orte zu attraktiven Zielen des immer weiter wachsenden Kulturtourismus. Auch die Freilichtmuseen leisten - wenig beachtet von den Denkmalbehörden - einen unersetzbaren Beitrag zur Geschichtsvermittlung. Die Besucherzahlen zeigen den Erfolg der bewahrten und durch translozierte Bauten ergänzten Dörfer und Dorflandschaften. Freilichtmuseen verfolgen ein bemerkenswertes Konzept: Durch bewußte Inszenierungen - der Dorfanlagen, der Raumeinrichtungen, der einzelnen Bauphasen eines Hauses - wird die Distanz zur vergangenen Welt aufgehoben. Geschichte ist erlebbar.

Diese Erfahrungen sollten für eine nachhaltige Strategie der Denkmalpflege genutzt werden. Natürlich lassen sich die Methoden der Freilichtmuseen nicht unverändert übertragen. Die Idee aber, Emotionen für Denkmalerhaltung zu aktivieren, eröffnet interessante Möglichkeiten für eine konservatorische Praxis, die sich von dogmatischen Einengungen befreit hat.


Wiederaufbau historischer Bauten

Der gesellschaftliche Auftrag an die Denkmalpflege umfaßt auch Wiederaufbau und Wiederherstellung zerstörter Denkmale. Rekonstruktion ist vor allem dort eine wirkungsvolle konservatorische Methode, wo die Mittelpunkte der Gesellschaft, die Symbole regionaler Identität vernichtet sind. Diesen Städten, gezeichnet vom Borbardement des Zweiten Weltkriegs und anschließendem Flächenabriß, fehlen Orte der geschichtlichen Erinnerung, Orte, an denen sich der über mehrere Jahrhunderte reichende kulturelle Reichtum erfahren läßt. Die Wiedererschaffung der symbolträchtigen Monumente erfüllt ein gesellschaftliches Bedürfnis. Gerade diese ausgelöschten historischen Bauten und Stadtviertel sind in besonderer Weise mit Emotionen, Ideen, also immateriellen Denkmalwerten verknüpft. Die bisherigen Wiederaufbauprojekte zeigen, daß Rekonstruktionen den städtischen Gemeinschaftssinn fördern. Gestärkt wird die kommunale Identität, das Selbstbewußtsein einer Region, das sich auch auf Traditionen und Geschichte gründet. Diese Grundhaltungen - Identität und Heimatbewußtsein - sind wesentliche Voraussetzungen für die zukunftsfähige Bewahrung des kulturellen Erbes. Die Wirkungen, die über das einzelne Monument hinausgehen, sind nicht zu unterschätzen: Große und kleine Wiederaufbauprojekte setzen eine Aktivität frei, die auch auf überlieferte Geschichtszeugnisse ausstrahlt. Das Verständnis für Denkmalpflege, für die Erhaltung historischer Substanz wächst.


Ein Beispiel für die fruchtbare Verbindung von Wiederaufbau und bürgerschaftlichem Engagement ist das Stadtschloß in Potsdam. Das Bauwerk im Herzen der Stadt brannte im Zweiten Weltkrieg aus, erhalten blieben jedoch die Außenmauern, zahlreiche Skulpturen und Reste der Innenausstattung. Mit dem Abriß im Jahr 1960 wurde bewußt ein Symbol der preußischen Geschichte ausgelöscht. Mit einer Schnellstraße, angelegt über einem Teil des Schloßareals, und einem maßstabsprengenden Turmhochhaus wurde Geschichte ausgelöscht, es kam eine neue Zeitschicht hinzu, die aber angesichts der vernichteten kulturellen Werte keinen Denkmalwert beanspruchen kann. Die Initiative zum Wiederaufbau des Stadtschlosses ging auf eine lokale Bürgerbewegung zurück, die eine Mehrheit in der Potsdamer Öffentlichkeit wie auch im Stadtparlament gewann und zugleich die Finanzen für einen ersten Schritt der Rekonstruktion einwarb. Im Jahr 2000 begannen die Arbeiten am Fortunaportal des Schlosses. Die Wiedererrichtung des verlorenen Schlosses verbindet sich mit einem "geistigen Wiederaufbau", der Rückgewinnung einer eigenen brandenburgischen Identität. Es wächst ein neues Verständnis für Geschichte und Heimat. In diesem Prozeß leistet Denkmalpflege einen unersetzbaren Beitrag. Den Denkmalbehörden kommt die Aufgabe zu, mit dem gesammelten Wissen, mit Ausgrabungen und Bauforschung, mit bautechnischen und architekturhistorischen Erfahrungen den Wiederaufbau zu befördern, um damit in der Öffentlichkeit dieses Verständnis für Geschichte zu aktivieren, das letztlich allen historischen Bauten zu Gute kommt.

Daß die aktive Beteiligung der Denkmalpflege an Wiederaufbauprojekten überzeugende Ergebnisse erbringt, ist am Dresdner Kanzleihaus zu sehen, das zwischen 1996 und 1999 neu errichtet wurde ( 8 ). Das erste Verwaltungsgebäude der sächsischen Landesbehörden, entstanden 1586-1588, erlitt im Zweiten Weltkrieg starke Zerstörungen. Die noch erhaltenen Gebäudeteile wurden aber erst 1963 abgebrochen. Mit dem Wiederaufbau bestand die Chance, den historisch gewachsene Komplex von Bauten, Straßen und Platzanlagen um das Dresdner Schloß mit einem wichtigen Monument wieder erfahrbar zu machen. Das Gebäude schließt die Anlage des Stallhofes und eröffnet im Gegenüber mit dem Schloß die 1945 ausgelöschte Schloßstraße. Beim Wiederaufbau wurden die gewölbten Keller des 16. Jahrhunderts und ein Teilstück der alten Dresdner Stadtmauer integriert. Baugestalt und Fassaden folgen exakt dem zerstörten Kanzleihaus in seiner letzten Überformung von 1916. Die Sandsteingliederungen der Fenster und Giebel wurden bis in den Fugenschnitt authentisch wiederhergestellt. Lediglich beim Innenausbau konnten die denkmalpflegerischen Forderungen nach der Verwendung historischer Bautechnologien nicht umgesetzt werden. Ein Stahlbetonskelett bildet den tragenden Kern, die Gewölbe wurden in Rabitz-Konstruktion ausgeführt. Entscheidend ist jedoch, daß die Besucher auch im Inneren des Hauses Geschichte erleben können, sei es in den alten Kellern, in den Gewölbehallen des Erdgeschosses oder in den Wendelsteinen, die nach wie vor als Haupttreppenhaus für die Erschließung des Gebäudes sorgen. Der giebelgeschmückte Bau entfaltet wieder seine Wirkung in den städtischen Raum, er vermittelt - auch als Kopie - Baukultur des 16. Jahrhunderts.

( 8 ) siehe Wiederaufbauplanungen für das Salzhaus am Römer in Frankfurt/Main, für das Stadthaus in Mannheim, für das Schloß Hannover-Herrenhausen, für den Mittelbau des Schlosses in Saarbrücken, vgl. Rekonstruktion in der Denkmalpflege. Überlegungen - Definitionen - Erfahrungsberichte. Hrsg. v. Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz. Bonn 1997, S. 117-144


Wiederherstellung historischer Stadträume

In den letzten Jahrzehnten ist die Erkenntnis gewachsen, daß die Wirkung und Erlebbarkeit eines denkmalgeschützten Bauwerks weitgehend vom stadträumlichen Umfeld abhängt. Denkmalpflege darf sich nicht auf die Bewahrung weniger Zeugnisse und Fragmente inmitten von hemmungslos überformten Stadt- oder Dorflandschaft beschränken. Geschichtlichkeit wird vor allem von städtebaulichen Strukturen vermittelt, von Straßenzügen und Platzanlagen, von den Dimensionen, Materialien und Bauformen der gebauten Umwelt.

Die großen und mittleren Städte waren im vergangenen Jahrhundert einer beispiellosen Zerstörung historischer Strukturen ausgesetzt. Die Bomben des Zweiten Weltkriegs haben ganze Innenstädte vernichtet. In vielen Orten hat der Neuaufbau der Nachkriegszeit das Werk der Zerstörung fortgeführt, bestimmt von der Ansicht, daß ein Neuanfang in der Auslöschung aller Traditionen deutlich werden müsse, daß die moderne, lichte, verkehrsgerechte Stadt ohnehin besser sei als die historische. Mit der Verdrängung der Geschichte aus den Innenstädten verlor die Gesellschaft nicht nur wichtige Orte der Erinnerung, sondern auch ein Stück Lebensqualität. Dies ist vor allem in den Neuen Bundesländern zu spüren. In diesen versehrten und verwundeten Stadtgebilden hat die Denkmalpflege den Auftrag der Wiederherstellung historischer Strukturen. Die über Jahrhunderte gewachsenen Stadträume und Straßenbilder müssen wieder erfahrbar werden. Geschichts- und denkmalorientierte Stadtplanung leistet einen wesentlichen Beitrag für eine nachhaltige Bewahrung des Kulturerbes. Zugleich schafft diese Wiederherstellung lebenswerte Stadträume, sie stärkt Identität und Identifikation mit dem Gemeinwesen.

Diesen geschichtsorientieren Weg hat man in Halberstadt vorbildhaft beschritten. Nach Kriegszerstörung und Flächenabriß in den Jahren der DDR war von der Innenstadt um Holz- und Fischmarkt nur eine gigantische brachliegende Freifläche verblieben, in der die Stadtpfarrkirche St. Martini als letzter Rest des alten Halberstadt beziehungslos thronte. Im Rahmen der Stadtsanierung wurde die Fläche 1995-1998 wieder bebaut (9). Maßgebend waren dabei die alten Straßen- und Platzfronten und die Proportionen der zerstörten Gebäude. Obgleich die Häuser in modernen Formen errichtet wurden, orientieren sich Materialien und Architekturglieder an der vernichteten Vorgängerbebauung. Abwechslungsreich gestaltete Fassaden spiegeln die alte Parzellenstruktur. Kritisch anzumerken ist nur, daß sich hinter diesem Bild ein riesiges Kaufhaus verbirgt. Mit der Neubebauung ist die Martinikirche - der historischen Topographie entsprechend - wieder in den Stadtraum eingebunden. Kristallisationspunkt historischer Erinnerung ist das Rathaus, das in der alten Grundstruktur, aber in neuzeitlicher Gestalt über den bewahrten historischen Kellern wiedererrichtet wurde. Die zum Holzmarkt weisende gotische Westfassade ist als Kopie wiederentstanden. Zusammen mit dem Roland von 1433, den man an den alten Ort zurückbrachte, verdeutlicht das Rathaus die jahrhundertelange Geschichte der Stadt und das neue kommunale Selbstbewußtsein. Der Neuaufbau der Innenstadt ist ein gelungenes Beispiel für Aktivierung von Geschichte in einem ausgelöschten Stadtraum.

(9) Halberstadt. Modellstadt für Stadtsanierung. Faltplan, hrsg. v. Baudezernat der Stadt Halberstadt. Halberstadt 1999

Berlin hat mit der “kritischen Rekonstruktion” der Friedrichstadt und Dorotheenstadt nach 1990 einen ähnlichen Weg beschritten (10). Das tragende Prinzip ist die Wiedergewinnung der alten Straßenräume und die Schließung der Blockrandbebauung. Für die neuen Gebäude sind Höhenbeschränkungen festgeschrieben, um Maßstäbe und Proportionen des alten Straßenbildes zu bewahren. Um die Friedrichstraße sind heute wieder Straßenräume mit geschlossener Bebauung erlebbar. Auch wenn es sich hier überwiegend um Neubauten handelt, die wenige überlieferte Denkmale umschließen, so steckt doch im Stadtbild eine solche historische Dimension, daß hier Berliner Geschichte besser abzulesen ist als in den fragmentierten und von der Moderne entstellten Vierteln um den Alexanderplatz oder in Alt-Cölln. Zu bedauern ist, daß die “kritische Rekonstruktion” keine Rückkehr zu den alten Parzellen und damit zu den kleinteiligen Strukturen der historischen Stadt durchsetzen kann. Häufig wird ein gesamter Block von nur einem Investor bebaut. Eine bemerkenswerte Lösung zeigt das Quartier Schützenstraße, errichtet 1994-97 von Aldo Rossi. Mit verschieden gestalteten Fassadenabschnitten, Dachaufbauten, stark farbigen Fronten und postmodernen Architekturzitaten wird der Eindruck eines gewachsenen Stadtviertels erweckt. Das 1996 erarbeitete und 1999 verabschiedete Planwerk Innenstadt bildet - zumindest für den Bereich “Historisches Zentrum” - eine Fortsetzung der geschichtsorientierten Stadtplanung (11). In der Wiedergewinnung des Stadtgrundrisses liegt eine große Chance für die Denkmalvermittlung in Berlin.

(10) Stimmann, Hans: Kritische Rekonstruktion und steinerne Architektur für die Friedrichstadt. in: Neue Berlinische Architektur: Eine Debatte. Hrsg. v. Annegret Burg. Berlin-Basel-Boston 1994, S. 107-122; Hoffmann-Axthelm, Dieter: Kritische Rekonstruktion - Kritik der Praxis. in: ebenda, S. 123-129
(11) Planwerk Innenstadt Berlin. Eine Provokation. Hrsg. v. der Architektenkammer Berlin. 2. Aufl. Berlin 1997; Hoffmann-Axthelm, Dieter: Planwerk Innenstadt Berlin. in: Berlino - Berlin. 1940-1953-1989-2000-2010. Physiognomie einer Großstadt. Hrsg. v. Hans Stimmann. Katalog der 7. Internationalen Architekturbiennale Venedig. Berlin-Mailand 2000, S. 23-25


Aktivierung von Geschichte durch ganzheitliche Denkmalpflege

Denkmalpflege hat die Aufgabe einer ganzheitlichen Präsentation der Monumente. Die ästhetische Erfahrung von Fassaden und Innenräumen trägt zu einer überzeugenden Vermittlung von Kunst, Geschichte und Denkmalbedeutungen bei. Aus dem Erlebnis gestalteter Denkmale erwächst Verständnis für das Denkmal und dessen Bewahrung. Verantwortungsvolle Konservierung bedeutet Rücksichtnahme auf ästhetische Wirkungen. Vermieden werden sollte eine Präsentation von Fragmenten, Befundfenstern und zerstörten Bereichen, von Spuren, die sich so wichtig nehmen, das sie historische Botschaften und ästhetisches Erlebnis überlagern. Das Bewahren des Monuments schließt die Wiedergewinnung von Gestaltungen mit ein. Auch neue, durchgehende Gestaltungen in Respekt vor dem Denkmal können mit ihren ästhetischen Wirkungen Geschichte vermitteln. Letztlich ist diese ganzheitliche Präsentation eine subtile Inszenierung und Aktivierung geschichtlicher Botschaften, eine Inszenierung, die nicht nur der didaktischen Vermittlung des Denkmals dient, sondern die auch das langfristige Überleben des Monuments sichert.

Ein überzeugendes Beispiel ganzheitlicher Denkmalpflege bilden die 1998/99 restaurierten Meisterhäuser für Paul Klee und Wassily Kandinsky in Dessau (12). Die Gebäude wurden im Dritten Reich und in den Jahren der DDR stark überformt. Die farbenreichen Ausmalungen der Bauhaus-Künstler verschwanden unter neuen Raumfassungen. Die Restaurierung beseitigte diese Eingriffe und Zerstörungen, um die künstlerischen Aussagen von Architektur und Raumgestaltung wieder ablesbar zu machen. Die Innenräume erhielten - auf der Grundlage genauer Befunduntersuchungen - die historischen Farbfassungen zurück, in der Form, wie sie beim Auszug der Bauhaus-Künstler 1933 zu sehen waren. Die leuchtenden Farben der Wände prägen heute wieder die Wirkung der Wohnräume und Treppenhäuser. Das Erlebnis der Meisterhäuser wird von der zurückgewonnenen Farbigkeit getragen und befördert. Die beteiligten Restauratoren und Denkmalpfleger konnten sich mit ihrem ästhetischen Konzept nicht überall durchsetzen. Die Nutzer bestanden auf der Sichtbarlassung von Spuren. Die im Sinne archäologischer Befunde gezeigten Tapeten- und Linoleumstreifen werfen Fragen auf, nicht nur, weil die schnelle Alterung der offenen Bereiche eine dauerhafte Konservierung gefährdet, sondern auch, weil der Gesamteindruck dieser Räume teilweise gestört ist. Gleichwohl ist die einheitliche Präsentation von Bauwerk und Raumstrukturen, orientiert am Zustand von 1933, so bestimmend, daß der Besucher die Kunst des Bauhauses als ästhetisches Erlebnis wahrnehmen kann.

(12) Danzl, Thomas: Rekonstruktion versus Konservierung? Zum restauratorischen Umgang mit historischen Putzen und Farbanstrichen an den Bauhausbauten in Dessau. in: Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 1999, Heft 2, S. 100-111

Noch umfassender ist das Konzept historischer Präsentation beim Wiederaufbau des Dresdner Schlosses (13). Die Residenz, ausgebrannt 1945, wird seit 1985 wiedererrichtet - als Monument sächsischer Geschichte und Kultur. Die facettenreiche Geschichte Sachsens vom Mittelalter bis zur Gegenwart soll sich nicht nur in den Exponaten der Museen, in den Räumen und Raumausstattungen spiegeln, sondern auch am Bauwerk selbst. Es entsteht nicht der Zustand vor der Zerstörung des Zweiten Weltkrieges, sondern ein Schloß, das verschiedene Zeitschichten mit Hilfe von Architektur und künstlerischer Gestaltung didaktisch vermittelt. Mit dem Wiederaufbau werden die für die jeweiligen Zeiten typischen Grundrißstrukturen, Fassaden und Innenräume als Zeichen politischen Anspruchs, als Zeugnisse besonderer geschichtlicher Ereignisse und als hervorragende Leistungen der Kunst erhalten und zurückgewonnen. Die äußeren Fassaden präsentieren sich beispielsweise in der Neorenaissance-Fassung von 1901, während im Großen Schloßhof die Architektur des 16. Jahrhunderts mit den Sgrafitti italienischer Künstler rekonstruiert wird. Im Ostflügel wird die gotische Halle zu sehen sein, darüber der Riesensaal in der Fassung von 1627, das politische Zentrum Sachsens über zwei Jahrhunderte. Diese Elemente werden nicht als archäologische Fragmente präsentiert, sondern vielmehr als ganzheitliche Gestaltungen der Baukunst und Raumausstattung. Räume und Fassaden überzeugen durch ihre Wirkungen, die zurückgewonnenen Kunstwerke vermitteln über ästhetische und emotionale Erfahrungen wichtige Botschaften der Geschichte. Die Zeitschichten fügen sich - weitgehend bruchlos - zu einem wirkungsvollen Panorama zusammen.

(13) Glaser, Gerhard: Die denkmalpflegerische Zielstellung. in: Das Dresdner Schloß. Monument sächsischer Geschichte und Kultur. Ausstellungskatalog Dresden 1989, S. 119


Weiterbau am Denkmal im Respekt vor der Geschichte

Umnutzungen historischer Gebäude und veränderte oder erweiterte Nutzungsanforderungen bilden eine große Herausforderung für die Denkmalpflege. Eine kontinuierliche Nutzung ist unverzichtbar, weil sie eine grundlegende Voraussetzung für die nachhaltige Bewahrung des Denkmals darstellt. Die neuen Funktionen erfordern Umbauten, Ergänzungen, Erweiterungen oder Neubauten im Umfeld des Denkmals. Anzustreben ist ein Weiterbau in Respekt vor dem alten Bauwerk, ohne konfrontative moderne Architektur, die die Aura des Gebäudes stört oder gar aufbricht. Ein historisch angemessener Weiterbau schließt viele Möglichkeiten ein: historische oder retrospektive Architektur, Gestaltungen mit alten Bauformen und moderne Interpretationen der überlieferten Motive. Die neu ergänzten Bauten sollten sich in Maßstab und Dimensionen an den Bestand anlehnen. Alte Gliederungen und traditionelle Baumaterialien können die Einbindung in den Denkmalbestand verstärken. Ein historisch angemessener Weiterbau trägt zur Überlieferung denkmalwerter Strukturen bei, er transportiert geschichtliche Botschaften besser als eine im bewußten Gegensatz entwickelte moderne Architektur. Die im 19. Jahrhundert vollendeten gotischen Kirchen und Turmbauten zeigen die Berechtigung dieser historisch orientierten Ergänzungen. Die aus dem Geist des Bauwerks entwickelten Restaurierungen können heute als herausragende Leistungen der Denkmalpflege bewertet werden.

Ein Beispiel für den einfühlsamen Weiterbau in sensibler Umgebung bilden Pfarrhaus und Wallfahrtszentrum im sächsischen Wechselburg, in unmittelbarer Nähe der romanischen Stiftskirche, die zu den bedeutendsten Monumenten mittelalterlicher Architektur in Sachsen zählt. An den Kirchenbau schließen sich die Konventsgebäude des Augustiner-Chorherrenstifts an, die seit dem 13. Jahrhundert vom Deutschen Ritterorden genutzt und ausgebaut wurden. Das spätgotische Torgebäude des Deutschordenshauses, später des Schlosses Wechselburg, wurde nach 1945 als Pfarrhaus der katholischen Kirchgemeinde genutzt. Der 1988-1990 angefügte Erweiterungsbau nimmt einen Saal und andere Gemeinderäume auf. Das Haus ist ein Bau unserer Zeit und doch erfüllt vom Geist des Ortes. Mit Satteldach und hell verputzten Wandflächen ist das Gebäude in den über Jahrhunderten gewachsenen Bereich um die Stiftskirche eingepaßt. Verwendet wurde das traditionelle Baumaterial der Region: Gewände und Gliederungen bestehen aus rotem Rochlitzer Porphyrtuff. Weitergeführt wurde ein Prinzip der sächsischen spätgotische Architektur. Im Saal sind tiefe Fensternischen ausgebildet, die hier allerdings nicht in der Mauerstärke liegen, sondern außen als prismatisch gebrochene Erker ablesbar sind. Die Besucher empfinden den Neubau als natürliche Ergänzung, weil er den Blick nicht von dem romanischen Monument ablenkt, aber doch Geschichte weiterschreibt.

Einem starken Veränderungsdruck sind die alten Dörfer ausgesetzt. Im Zuge tiefgreifender wirtschaftlicher Wandlungen gehen die landwirtschaftlichen Funktionen verloren. Damit sind die gewachsenen Kulturlandschaften bedroht. Gerade im Umfeld der Großstädte werden viele Dörfer zu reinen Wohnsiedlungen, die keine Erinnerung an ländliches Leben und Landwirtschaft erwecken. Mit einem denkmalgerechten Weiterbau dörflicher Strukturen kann auch bei diesen Transformationen Geschichte bewahrt und vermittelt werden. Ein solches geschichtsorientiertes Konzept wird beispielsweise am Dorfanger von Berlin-Kaulsdorf verfolgt. Der Ortskern um die Dorfkirche war bisher weitgehend unberührt von den Einflüssen der Großstadt. Hinter den Höfen erstrecken sich Obstbaumwiesen und weite Felder, die bis zum Wasserlauf der Wuhle reichen. Die landwirtschaftliche Nutzung der Bauernhöfe ist inzwischen vollständig aufgegeben. Die Anbindung an das Berliner Zentrum mit S- und U-Bahn und die Lage im Grünen machen Kaulsdorf heute zu einem bevorzugten Wohnort. In Abstimmung mit den Denkmalbehörden entstehen seit 1990 neue Wohnbauten, die sich in die Höfe des 18. und 19. Jahrhunderts einpassen. Aufgenommen wird der Ort der alten Scheunen und Remisen, auch die Dimensionen der Neubauten richten sich nach diesen Vorbildern, so daß die Vierseithöfe wieder geschlossen erscheinen. Traditionelle Baumaterialien, vor allem Backstein, aber auch historische Bauformen wie der Segementbogen über Tür- und Fensteröffnungern sorgen für eine Einbindung der Wohnbauten in die gewachsenen Strukturen. Die Aura des märkischen Dorfes bleibt gewahrt. Die Erinnerungen an ländliches Leben und Arbeiten, an Strukturen und Bauformen eines alten Dorfes sind auch in einer transformierten Welt erfahrbar.

Die nachhaltige Denkmalpflege des 21. Jahrhunderts darf sich nicht über das Gebot oder Verbot konservatorischer Strategien definieren. Denkmalpflege heißt Geschichte erlebbar machen - mit allen erfolgversprechenden Wegen und Methoden.

Juni 2002

Quelle: http://www.ak-berlin.de/ausschuss/donath_d.html
Dirk1975
Moderator

Beiträge: 435


 

Gesendet: 03:28 - 03.06.2004

"Die bewußte Kennzeichnung der modernen Zutat schlägt um in eine Überlagerung, ja Beeinträchtigung des Denkmals. Die neuzeitliche Architektur nimmt sich oftmals so wichtig, daß die Aura des alten Gebäudes empfindlich gestört wird. Es fehlt jeder Respekt vor der Ausstrahlung historischer Bauten. Auch hier ist zu konstatieren: Dieser einseitige Weg der Denkmalpflege vermindert das Erlebnis historischer Architektur und geschichtlicher Zusammenhänge. Die gesellschaftliche Akzeptanz dieser gegen das Denkmal gerichteten Architektur ist denkbar gering."

Über diese Worte sollte Herr Chipperfield mal nachdenken...

Viele Dank für den Artikel, trotz der Länge sehr interessant. Es wird viele Gelegenheiten geben daraus zu zitieren.

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